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 Bürokratie mit "Selbstheilung":
Verwaltungsverfahrensgesetz -
Anhörungen werden zur Farce
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 Journalistische Recherchen sind manchmal wie Ausgrabungen - man findet Sachverhalte, die zwar zum aktuellen Thema gehören, aber auch darüber hinaus eine öffentliche Beachtung verdienen.

So ist es auch bei diesem Bericht über die kuriose Irrelevanz von Verwaltungsfehlern bei Anhörungen, die bei der Recherche zu unserem Online-Bericht "Abgehängt im Bergdorf: Teure Flüchtlings-Bürokratie behindert Integration - und ist ohne Notlage grundgesetzwidrig" aufgefallen sind.

Anhörungen die nach den Regeln des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG; bzw. hier in Baden-Württemberg LVwVfG) stattfinden, gibt es ja zu diversen Verwaltungsakten, also längst nicht nur für Wohnsitzauflagen anerkannter Flüchtlinge.


Die Ungültigkeit der Anhörung hat sich bei unserem Betroffenen daraus ergeben, dass er bei Zugang der Anhörung noch minderjährig war, ihm die Anhörung mit Fristsetzung also erst ab dem Datum der Volljährigkeit hätte zugestellt werden dürfen. Seine Minderjährigkeit war jedenfalls nach der Ankunft 2015 der einzige Grund, warum sein individuelles Interview nicht zugleich mit der volljährigen Schwester erfolgte, um sein Asylverfahren zügig abzuschließen. Ohne diese Verschleppung hätte ihm ohnehin keine Wohnsitzauflage mehr erteilt werden dürfen.

Obendrein wurde ihm die Auflage, die nur binnen 6 Monaten nach positivem Abschluss des Asylverfahrens erlaubt ist, 10 Tage vor diesem Fristende aufgedrückt. Postausgang für die strittige Anhörung war am 22. Dezember mit Fristende 5. Januar - so sieht für anerkannte Flüchtlinge Weihnachtspost aus dem Lörracher Landratsamt aus.

Das Ergebnis dieser Überrumpelung ist eine bürokratisch-formalistische Kettenreaktion, die die unzumutbare Wohnsitzauflage in einem pseudo-juristischem Automatismus betoniert. Das Regierungspräsidium Freiburg als Widerspruchsentscheider prüft die inhaltlichen Aspekte des Härtefalls ohnehin nicht. Und die Kontrolle auf Fehler des Landratsamtes hat die ungültige Ladung zur Anhörung überhaupt nicht gemerkt - oder schweigend übergangen.

Der nächste Akt, um den Umzug in die verfügbar werdende Wohnung noch machen zu dürfen, war ein Eilantrag auf vorläufigen Rechtsschutz vor dem Freiburger Verwaltungsgericht. Auch hier wurde die Blockade wieder gründlich in Beton gegossen:

Einerseits weil das Gericht darauf verweist, das ja eine aufschiebende Wirkung begehrt wird, aber § 12a Aufenthaltsgesetz diese aufschiebende Wirkung gerade verhindern soll - also rechtlich ein Kreisverkehr ohne Ausfahrt konstruiert wurde, womit formell jeder Härtefall erschlagen werden kann..

Andererseits behaupten die Verwaltungsrichter (Wiestler, Dr. Haedicke und Bader) in Ihrem Beschluss "soweit der Antragsteller eine fehlerhafte Anhörung § 28 Abs. 1 LVwVfG) wegen seiner damaligen Minderjährigkeit rügt, dürfte* ein möglicher Fehler jedenfalls durch das Widerspruchsverfahren geheilt worden sein (§ 45 Abs 1 Nr. 3 LVwVfG" (*Die Begründung des Beschlusses haben die Richter als "vorläufige Beurteilung" im Konjunktiv abgefasst).

Da die fehlerhafte Anhörung erst nach dem ablehnenden Widerspruchsbescheid durch die Recherche von FiskusLeaks aufgedeckt wurde, ist das schon eine erstaunliche Erkenntnis. Offenbar haben Widerspruchsverfahren in Baden-Württemberg (und vielleicht auch anderswo) magische Selbstheilungskräfte, die selbst unentdeckte/verschwiegene Verwaltungsfehler wortlos in Nichts auflösen.

Noch verblüffter bleibt man zurück, wenn man die besagte Regel des § 45 Abs 1 Nr. 3 LVwVfG nachliest:

"Eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 44 nichtig macht, ist unbeachtlich, wenn ... "die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird".

Gleichgerichtet findet sich online bei Wikipedia die Angabe zum nicht auf Baden-Württemberg beschränkten VwVfG: "Wird die Anhörungspflicht verletzt, so liegt ein Verfahrensfehler vor, der den ergangenen Verwaltungsakt formell rechtswidrig werden lässt. Die unterbliebene Anhörung kann jedoch nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG geheilt werden, indem sie nachgeholt wird. Dazu reicht es aus, wenn im Rahmen des Widerspruchverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird."

Fakt ist, dass im Widerspruchsverfahren keine Anhörung stattgefunden hat. Die von der Anwältin eingereichte Begründung und die eingereichten, eindeutig den Antrag eindringlich stützenden, schriftlichen Stellungnahmen des Jobcenters und des Gymnasiums des Antragsstellers wurden überhaupt nicht inhaltlich berücksichtigt. Im Gegenteil: Die Widerspruchsablehnung bezieht sich ausschließlich auf die rechtswidrige Minderjährigen-Anhörung. Der Antragsteller wurde weder mündlich noch schriftlich zu einer "heilenden" Stellungnahme aufgefordert - und alle ihn stützenden Angaben Dritter wurden ignoriert.

Das Spiel, alle eingereichten weiteren Fakten und Begründungen zu ignorieren, hat sich dann beim Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht wiederholt. Zusätzlich hatten wir die Recherche-Ergebnisse unserer Redaktion dem Gericht zusammengefasst, die angeblich auch berücksichtigt wurden (Kopie war dem Beschluss-Original angefügt). Nur finden sich die darin neu aufgeworfenen Rechtsdefizite und Fakten nirgends in der Begründung zum Beschluss wieder?!

Stattdessen liefert das Gericht eine einsame Erläuterung, warum doch kein Härtefall vorliege: Der Antragsteller könne ja "auf ein anderes, näher gelegenes Gymnasium - etwa in Müllheim - wechseln". Die bittere Wahrheit ist aber, dass gerade die strittige Wohnsitzauflage den Umzug nach Müllheim vereitelt. Es gibt zwar vom jetzigen Wohnsitz des Antragstellers einen kürzeren Straßenweg nach Müllheim, als zum jetzigen Gymnasium in Weil am Rhein, aber das ist der Bergpass über den Blauen im Hochschwarzwald - während der einzige Schulbus auch dort an der gleichen desaströsen Busverbindung hängt, die nicht über den Berg aber über viele Dörfer im 3/4-Kreis um den Blauen herum fährt und eben nicht kürzer ist. Die Richter leben wohl auch schon in der modernen Welt der alternativen Fakten - die zum gewollten Ergebnis passen?

Unsere Presseanfrage zu diesen Widersprüchen wurde weder vom Verwaltungsgericht Freiburg noch vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim beantwortet. Schweigen zu eigenen Fehlern gehört leider auch zur Unabhängigkeit dieser Gerichte.

Anhörungen werden zur Farce

Betrachtet man das gesamte Szenario, wird klar, dass die vom Gesetzgeber gewollten Anhörungen bei derartiger Handhabung zur Farce werden, da sie willkürlich unterlaufen werden können.

Verwaltungsfehler sind planmäßig irrelevant, inhaltliche Begründungen werden systematisch ignoriert und alle Folge-Beteiligten wirken nur als Schutzpatron des ursprünglichen Bescheides, egal wie falsch dieser ist und egal wie destruktiv er Betroffene benachteiligt.

Und da die behördlich Beteiligten nicht nur dieses Spiel beherrschen, sondern auch über Monate verschleppen können, wird in diesem Fall eine Wohnsitzauflage zur grundgesetzwidrigen Einschränkung der Freizügigkeit - ohne jeden Sinn, aber teuer bürokratisch auf Kosten aller Steuerzahler.

Erfolgreiche Anhörung im Nachbar-Landkreis

Einzige Chance der betroffenen Familie, diesem bürokratisch-juristischen Desaster zu entgehen, war ein Antrag auf Umzug in den nahen Nachbar-Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald. Das Landratsamt in Freiburg hatte anfangs wenig Hoffnung gemacht, aber das Anhörungsrecht sehr ernst genommen. Bei der Begründung hat die Redaktion von FiskusLeaks aktiv geholfen und die komplette Flüchtlingsfamilie beim Anhörungstermin begleitet - mit Erfolg. In den Nachbar-Landkreis, ins Breisgau, konnte die Familie damit mit freier Wohnsitzwahl umziehen - ein Grundrecht, das ihnen im Landkreis Lörrach weiter verwehrt wird.

Rolf Albrecht
     
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